Mittwoch, 10. Februar 2016

Japanisch lernen mit allen Sinnen, diesmal: der Geschmackssinn ...

Irgendwie dreht sich hier immer mehr ums Thema "Essen". Andererseits ist Essen auch für die Japaner sehr wichtig, und ich will mich ja ein bisschen anpassen, von daher passt das schon ...

Ich hatte gestern die große Ehre, in einem richtig edlen japanischen Restaurant zu speisen, mit niedrigen Tischen, Schuhe ausziehen, Tatamimatten, Schiebetüren aus dünnem Holz und ausgesuchten Delikatessen wie kaki (Austern), tsukune (gebratenen Hühnerfleischklößchen am Spieß, auf unterschiedliche Arten gewürzt), tara (Pazifischem Kabeljau, der auf der Zunge zerging), Sashimi aus eingelegter Pferdeleber (jawoll, und die sind richtig lecker! Umami pur!), raffiniert gewürzten panierten Hühnerkoteletts, diversen Salaten und Amaou-Erdbeeren - eine Fukuokaer Spezialität, die japanweit als Delikatesse gilt, laut einem meiner Lieblingsjapanblogs zwar eine Erfindung der Marketingindustrie ist, aber trotzdem süß, fruchtig und erdbeerig schmeckt. Und das um die Jahreszeit ...

Wie kam es zu diesen lukullischen Genüssen? Ich habe bereits am ersten Tag nach meiner Ankunft, also bevor überhaupt der offizielle Unterricht losging, eine Tandempartnerin gefunden. Chikako-san, meine Vermieterin, hatte mich an diesem Tag gleich mal mit auf ein Klavierkonzert ihrer Tochter genommen und hat mich dort mit Kayo bekannt gemacht. Kayo ist, so wie Chikako-san, Klavierlehrerin und wird im März eine ihrer Schülerinnen auf eine Konzertreise nach Budapest begleiten - ihr erster Aufenthalt in Europa. Dafür muss sie dringend ihr Englisch aufpolieren, und hier komme ich ins Spiel.

Ihr Mann betreibt das eben erwähnte Restaurant und kocht dort auch selbst, und wir haben unser gestriges zweites Treffen dort abgehalten - eine sehr angenehme Art des Tandemsprachlernens. Dabei habe ich ein paar für mich aufschlussreiche Beobachtungen gemacht:

1) Mein Japanisch hat sich im Vergleich zur letzten Woche verbessert. Das Niveau ist zwar immer noch niedrig, aber ich konnte ein paar Sachen formulieren, die ich letzte Woche nicht rausgebracht hätte. Und ich kann dem allgemeinen Gesprächsverlauf besser folgen und isoliere häufiger als vor einer Woche einzelne Wörter, die ich aus dem Kontext verstehe. Leider schaffe ich es nicht, mir diese Wörter dann nur vom Zuhören zu merken, auch wenn sie während des Gesprächs mehrmals fallen. Ich muss mir immer sofort alles aufschreiben und dann zu Hause wiederholen - aber ich will natürlich auch nicht immer mit Notizblock rumrennen, das zerstört ja auch die Gesprächsatmosphäre.
Egal, interessanter war sowieso folgende Einsicht:

2) Deutschland bzw. Europa allgemein kann bei Japanern, die noch nie dort waren, ähnlich exotisch und mit halbgaren Klischees und Stereotypen behaftet sein wie umgekehrt Japan für Europäer.
Wie ich darauf kam? Kayo hat mir bei unserem Treffen ziemlich viele Fragen über Deutschland gestellt, besonders, wer hätte es gedacht, rund ums Thema "Essen". Bei jeder Speise, die reingetragen wurde, hat sie gefragt, ob es das in Deutschland auch gebe, und dann gespannt bzw. ängstlich mein Mienenspiel beim ersten Bissen beobachtet. Soviel Sorge um mein Wohlergehen als Gast rührten mich natürlich, und ich habe sie dann irgendwann beruhigt, dass Fisch und Muscheln sowie Geflügel-, Rinder- und anderes Nichtschweinefleisch durchaus in Deutschland bekannt seien, ebenso wie Kartoffeln und diverse andere Gemüsesorten (besonders das mit den Kartoffeln sorgte witzigerweise für Staunen), und dass es zwar korrekt sei, dass es in Deutschland Bier, Wiener Würstchen und Brot gebe, ersteres und letzteres in einer bemerkenswerten Vielfalt, ja, auch das sei zutreffend, sich jedoch mein persönlicher Speiseplan und wohl auch der meiner allermeisten Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht nur auf diese Nahrungsmittel beschränke. Und ich deshalb kein Problem mit japanischem Essen habe. Im Gegenteil, ich fände hier alles sehr lecker. Von Nattō mal abgesehen.

Ich frage mich seitdem, inwiefern westliche Ausländer (konkret: ich) hier von "den Japanern" als "anders", als Exoten wahrgenommen werden. Das öffnet jetzt das große Fass "Eigenwahrnehmung vs. Fremdwahrnehmung" - der Punkt ist natürlich, dass ich mich hier trotz allem nicht als Exot sehe - auch wenn ich manche Sachen anders mache, als ein Japaner sie machen würde, und manche Codes und Gepflogenheiten noch nicht durchschaue, weil sie nicht so funktionieren, wie ich es aus Deutschland, Ostmittel- oder Osteuropa kenne. Zum Beispiel die Etikette beim Essen, was mich zu Punkt 3 bringt.

3) Tischmanieren sind nicht ganz unkompliziert. Also, ich meine jetzt nicht in privatem Rahmen, wo das relativ entspannt ist und man mit dem üblichen Japanversteherbücherwissen hinkommt ("Stäbchen nicht senkrecht in das Essen stecken, bringt Unglück, weil es an Speisegaben für Verstorbene erinnert", "nicht mit Stäbchen auf andere Leute zeigen", "nicht mit den Stäbchen rumfuchteln" etc. blabla), sondern bei offiziellen Anlässen - z. B. dem Besuch in einem feinen japanischen Restaurant. Daher war es gut, das gestern mal in geschütztem Rahmen ausprobieren zu können. Da gibt es nämlich durchaus Feinheiten, die man als Unerfahrener nur schwer voraussehen kann. Inwiefern meine gestrigen Beobachtungen allgemeingültig sind, kann ich nicht einschätzen. Sicher gibt es da individuelle und vielleicht auch regionale Unterschiede. Außerdem war es keine ganz offizielle Situation: Das Restaurant war das von Kayos Mann, und wir hatten ein Separée, es war also quasi "erweitertes Wohnzimmer". Und Kayos kleine Tochter war dabei, sie ist total niedlich, aber sie hat natürlich, für ihr Alter normal, in Bezug auf Tischmanieren noch Einiges zu lernen - und lenkte dankenswerterweise durch diverse Aktionen immer wieder von meinen faux pas ab. 

Was mir so aufgefallen ist:
- Am Anfang bekommt man ein geschmackvoll gerolltes/gefaltetes, angefeuchtetes Handtuch, welches zum Säubern der Hände verwendet wird - jedoch nicht nur.
- Es gibt Speisen, die nur für einen persönlich sind, und andere (z. B. Salat) für die Allgemeinheit. Wenn man sich von den allgemeinen Sachen was auf den Teller holt, tut man dies mit seinen Essstäbchen (hashi) - allerdings dreht man die Stäbchen dafür um und verwendet das hintere Ende. Salatbesteck oder Ähnliches gibt es nicht. Das wusste ich prinzipiell schon vorher - das Problem war vielmehr, die Gerichte für die Allgemeinheit von denen für mich persönlich zu unterscheiden. Motto: Wenn der Kellner dir den Salat direkt vor die Nase stellt, heißt das anscheinend noch nicht, dass er nur für dich ist. Und wenn man dann einfach mit dem Verzehr von selbigem beginnt (mit dem vorderen Ende der Stäbchen), kann dies zu Irritationen führen.
- Sind die Stäbchen nicht im Gebrauch, z. B. während einer angeregten Konversation, gibt es spezielle Ablagen (hashioki), auf denen jene platziert werden. Dabei ruhen die hinteren Enden der Stäbchen auf dem Tisch.
-  So, wer jetzt aufgepasst hat, wird gleich dazwischenrufen: Aber die hinteren Enden sind doch evtl. durch die sachgerechte Überführung allgemeinen Essens auf den eigenen Teller beschmutzt! Das ist korrekt. Hier kommt das oben erwähnte Feuchttuch zum Einsatz, an welchem die hinteren Enden der o-hashi nach jedem Gebrauch abgewischt werden. Ansonsten scheint es nicht dramatisch zu sein, wenn die verschmutzten hinteren Enden der Stäbchen die Tischplatte berühren. (Das käme hin, denn das japanische Konzept von "Sauberkeit" unterscheidet sich allgemein von dem in Deutschland - aber das ist jetzt ein anderes Thema). Aber in diesem Punkt werde ich mir noch mal eine unabhängige Meinung einholen - ich bin mir nicht sicher, ob meine diesbezügliche, auf Englisch gestellte Frage verstanden wurde.
- Generell gilt anscheinend die Regel: Im Zweifelsfall lieber mit Stäbchen essen als irgendwie anders. Die tsukune beispielsweise (längliche, raffiniert gewürzte, gebratene Hühnerfleischklößchen an Holzspießchen, die ganze Konstruktion ca. 6 Zentimeter lang) wären in Deutschland ein klassisches Fingerfood. Und mal ehrlich: Wie soll man die mit Stäbchen essen? Viel zu umständlich. Bzw. ich bin einfach gar nicht auf die Idee gekommen, und habe die Spieße (die auch noch ein breites Ende haben, wie geschaffen zum Greifen) ganz selbstverständlich genommen und abgeknabbert.
Und das war anscheinend falsch.
Denn die Japaner lieben umständlich (ich sage nur: drei Schriftsysteme). Die richtige Lösung ist: Man ergreife das Ende des Spießchens mit der einen Hand, streife dann mit Hilfe der in der anderen Hand gehaltenen o-hashi das Fleischklößchen auf den Teller und esse es dann auf übliche Weise. Also mit den Stäbchen. Da muss man erst mal draufkommen!

Am Rande sei noch erwähnt, dass in Japan manche Türen eher niedrig sind und man sich dabei den Kopf anrempeln kann. Zum Beispiel beim Betreten eines Restaurants, das sich im Kellergeschoss eines älteren Gebäudes befindet. In seltenen Fällen auch noch ein zweites Mal beim Verlassen desselben.



Mit Tandempartnerin Kayo und ihrer Tochter Mio im Edelrestaurant; Warum der Riesen-Shogistein unbedingt mit aufs Bild musste, habe ich nicht so ganz verstanden. Es hat Irgendwas mit der Bedeutung des Kanjis zu tun (Weisheit? Glück?) - da es in Kalligraphieschrift geschrieben ist, kann ich es gerade nicht mehr zuordnen. Sachdienliche Hinweise willkommen.
Kleine Schälchen rechts: raffinierter Nudelsalat; schwarzer, quadratischer Teller: Pazifischer Kabeljau; runde Schüssel hinten links: Salat aus fadenförmig geschnittenen, frittierten Kartoffeln, Avocado, Tomaten etc.; runder Teller hinten rechts: panierte Hühnchenkoteletts mit frischem Rettich und Senf; dahinter: Sashimi aus Pferdeleber.

Das waren nicht die ersten Austern in meinem Leben - aber die ersten, bei denen ich verstanden habe, warum die Dinger als Delikatesse gelten und Leute bereit sind, einen Haufen Geld dafür zu bezahlen ...



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